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zuletzt aktualisiert: 06. Juli 2011, 07:49 Uhr
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Raus aus dem kognitiven Gefängnis

Blog

Wer allein nach kreativen Lösungen für ein Problem sucht, stößt schnell an seine Grenzen. Dabei helfen dann auch die besten Kreativtechniken nicht viel. Produktiver ist es, sich auf die Erfahrungen anderer einzulassen - auch wenn es anstrengend sein kann. Diskutieren Sie mit.

Von Michael Hengl

"Think outside the box!" - diesen Aufruf beansprucht der ehemalige Disney-Manager und Berater Mike Vance seit 1969 für sich. Die Ursprünge dieser Geisteshaltung sind allerdings viel älter. Beispielsweise tauchte bereits 1914 das berühmte Neun-Punkte Problem in den USA auf (siehe Grafik unten). Das kann nur derjenige lösen, der über den berühmt berüchtigten Tellerrand blickt. Paradoxerweise verstehen viele diesen Anspruch nicht etwa als eine Vision, sondern wortwörtlich als eine (Denk-)Methode. Dabei handelt es sich bei diesem Ansatz sicherlich um eine der schlechtesten Kreativitätstechniken überhaupt. Denn außerhalb der eigenen Rahmenbedingungen zu denken ist für das Gehirn etwas vollständig Neues im radikalen Sinn: Es ist nicht fremdartiger als man denkt, sondern fremdartiger als man denken kann!

Verschlechtert sich die Lage schleichend, ziehen sich viele eher in sich zurück
Corbis

Verschlechtert sich die Lage schleichend, ziehen sich viele eher in sich zurück

Was damit gemeint ist, illustriert eine schöne Geschichte aus Indien, die von Deepak Chopra stammt, einem indisch-amerikanischen (Alternativ-)Mediziner und Buchautor. Wenn in Indien die Mahouts ihre Elefanten trainieren, binden sie die Jungtiere mit dicken Seilen an großen Bäumen fest. Die Tiere sollen sich so nicht losreißen und weglaufen können. Später verwenden die Elefantenführer für ein ausgewachsenes Tier von mehreren Tonnen Gewicht nur eine dünne Wäscheleine, ohne dass es flüchtet. Es reißt sich auch dann nicht los, wenn es Hunger oder Durst hat, obwohl die Schnur kein wirkliches Hindernis darstellt. Die erwachsenen Elefanten können sich nicht befreien, weil sie nie etwas anderes erlebt haben. "Inside the box" können sie keine hilfreichen Daten oder Informationen finden. Jeder Beobachter wundert sich, warum sich die Elefanten nicht trotz aller Kraft losmachen. Doch die Lösung ist für sie außer Reichweite, "outside the box". Sie leben in einem kognitiven Gefängnis, dessen Gitterstäbe sie weder sehen noch fühlen können.

Beschränkte Manager

Das triff analog auch auf Manager zu: Sie können nicht wissen, was sie nicht wissen. Die blinden Flecken in ihrer Wahrnehmung können sie eben nicht wahrnehmen. Probleme lösen sie, wie alle Menschen, nur mit Hilfe ihres naturgemäß beschränkten Wissens und ihrer begrenzten Erfahrung. Trotzdem waren und sind auch Manager in der Lage, überraschende, kreative Lösungen zu finden - nur nicht durch "Think outside the box".

Schauen wir uns die den Elefanten an: Bei ihnen sind zwei Fluchtwege aus dem kognitiven Gefängnis vorstellbar. Der erste Weg ist schmerzhaft und anstrengend. Er funktioniert über das Leiden: Not macht erfinderisch. Durch einen Schock, eine elementare Bedrohung wie zum Beispiel Feuer in der Nähe, ergreift der Elefant instinktiv die Flucht und reißt sich los. Bei diesem spontanen Ausbruch stolpert er quasi über die Lösung, allerdings ohne diese vorher aktiv gesucht zu haben. Er verlässt schlicht die Box.

Neun-Punkte-Problem: Wer alle Punkte mit nur vier geraden Linien verbinden will, darf sein Denken nicht begrenzen (Lösung nach dem Klick)

Neun-Punkte-Problem: Wer alle Punkte mit nur vier geraden Linien verbinden will, darf sein Denken nicht begrenzen (Lösung nach dem Klick)

Bei langsam zunehmender Gefahr, wie etwa allmählichem Verhungern funktioniert dieser Notreflex leider nicht mehr und das Tier wird geduldig in der Opferrolle verharren. Leider verhalten sich viele Manager genauso. Verschlechtert sich die Lage schleichend, ziehen sich viele eher in sich zurück - grübeln und versuchen zuerst, mit mehr Einsatz mehr vom Gleichen zu machen. Damit erreichen sie meist das Gegenteil und sie geraten noch tiefer in die Not, bis in der totalen Resignation die Wende oder das Ende kommt.

Nur ein unbedeutend kleiner Teil der Menschheit ist so verrückt oder genial und dazu noch leidensfähig genug, permanent in der Not über sich hinaus zu wachsen. Die meisten großen Künstler sind gute Beispiele dafür. Sie geraten immer wieder in Krisen, um dann Geniales, Erschütterndes oder Entzückendes zu schaffen. Nicht viele Menschen schneiden sich wie Vincent van Gogh ein Ohr ab, um ihren Wahnsinn und Weltschmerz in eine bahnbrechende Kreation zu kanalisieren - sicherlich ein Handeln außerhalb der Konventionen und der Box. Stattdessen schlagen viele Menschen mit letzter Kraft den zweiten Lösungsweg ein. Sie teilen sich in der Not anderen mit. Sei es der Familie, dem Coach, Berater, Therapeut, Chef oder Team. Jeder könnte helfen.

Diversität und Toleranz

Gemeinsame Lösungen

Dieser zweite Weg funktioniert nach dem Prinzip: "Other's Boxes". Dieser Fall stellt den Königsweg dar, wenn er systematisch genutzt wird. Der Gedanke ist einfach. Sie vertrauen sich einer anderen Person an, weil diese in ihrer Box nicht über dieselben Erinnerungen verfügt wie sie. Andere Menschen haben anderes erlebt, besitzen andere lösungsrelevante Informationen. Das ist die Quelle für kollektive Kreativität und Innovation.

Bei den Elefanten ist das neben akuter Lebensgefahr die zweite Möglichkeit wie sich das Tier selbst befreien könnte. Es beobachtet, wie ein anderer Elefant es ihm vormacht. Das ist bei weitem weniger schmerzhaft als zu verhungern. "Other's boxes" machen sogar Freude, sie führen in der Regel schnell zu besseren Lösungen. Da sie in den Köpfen anderer schon existieren, kosten sie fast nichts. 99 Prozent aller Ideen, die schon irgendwo existieren, warten nur darauf, dass sie jemand zu einer adäquaten Problemlösung verknüpft.

Was Sie lernen müssen, um dieses gegen unendlich gehende Reservoir an Kombinationsmöglichkeiten und die damit verbundene Kreativität und Innovationskraft für sich zu nutzen, ist einfach: Konfliktfähigkeit. Sie müssen verschiedene Weltanschauungen zulassen und aushalten können. Üblicherweise herrscht bei jedem Gespräch etwa zwischen Marketing und Produktion, zwischen Firmenzentrale und operativen Einheiten eine "Ja, aber…" Kultur. Jede Seite bringt ihre Einwände vor und die Beteiligten suchen dann nach Kompromissen. Die Chance, bestehende Probleme durch Co-Kreation zu lösen, wird verspielt, weil Konfliktfähigkeit weder persönliche Kompetenz noch Teil der Unternehmenskultur ist.

Psychologische Ausdauer

Viele Manager neigen dazu, erst einmal die Meinungen von Kollegen, Kunden oder Vorgesetzten zu bewerten. Empfinden sie deren Sicht als Bedrohung für ihre eigene Haltung, werden sie nicht innovativ sein. Die Andersartigkeit von Anderen mag oft anstrengend, irritierend oder hinderlich sein - aber deshalb von einer Anderswertigkeit auszugehen, ist ein Fehler. Konfliktfähigkeit führt zu Kreativität und Innovation, erfordert aber Ausdauer von ihnen.

Fehlt sie, bleibt ein jeder in seinem kognitiven Gefängnis. Menschen finden tendenziell nur das gut, was sie schon aus der eigenen Box kennen - bis diese leer ist. Diversität und Toleranz sind damit keine Modewörter aus den Hochglanzbroschüren von Unternehmen, sondern treiben das eigene Geschäft an, was zum Beispiel eine Studie amerikanischer Wissenschaftler bestätigt. Sind Produktivität und Innovation unternehmerische Ziele, werden Konfliktfähigkeit und Diversität zu Schlüsselqualifikation in der Organisation.

Moderne Führungskräfte verknüpfen mit viel mentaler Ausdauer die vielen Boxen in ihrem Unternehmen. Sie lassen Andere anders sein, nutzen die Unterschiede, sammeln vorhandene Ideen, sortieren sie und realisieren schließlich die beste Lösung - bevor alle in ihren kognitiven Gefängnissen den kreativen Tod sterben.

Wie viel konstruktiver Widerspruch ist in Ihrem Unternehmen möglich und erwünscht? Wie steht es um die Kreativität? Was sind Ihre Erfahrungen? Diskutieren Sie mit!

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